Autorin versus Publikum in der Alten Schmiede des Stöffel-Parks. Auf der einen Seite, hinter einem Tisch, ganz alleine: Judith Hermann im Scheinwerferlicht. Im Dunklen: die erwartungsvollen Besucher.
Begegnen und annähern
Ein Moderator fehlt, denn Michael Au ist ausgefallen. Johannes Schmidt vom Kulturbüro der Verbandsgemeinde Westerburg streut zwar eine Prise Humor aus, kehrt aber nach der Begrüßung ihrem Podest den Rücken.
Also nimmt die Autorin Kontakt auf und kommt mit dem Publikum überein, dass es den Moderator ersetzt. Nun, wer wollte auch das „Oder“ wählen, das eine durchgehende anderthalbstündige Lesung in Aussicht stellte? Hermann, deren Augen lächeln, greift zum Buch „Wir hätten uns alles gesagt“, das Publikum ist an ihrer Seite.
Einstieg ins Buch
Sie liest wunderbar. Die Sprache wirkt sachlich mit kurzen Sätzen, die Beschreibungen sind knapp.
Doch schnell tauchen die Zuhörer in die Szene ein, erleben sie mit. Ein Zuhörer wird nachher die Autorin dafür loben, dass ihr Text Bilder vor seinen Augen entstehen lassen.
Wir folgen ihren Figuren, gehen über die Straße zu einem Späti, wir sehen, was der Ich-Erzähler sieht, erfahren seine Gedanken und Gefühle. Es ist ganz einfach. Es tauchen surreale, bizarre Bruchstücke auf. Nach knapp sechs Seiten hebt die Hauptperson ihre Hand und öffnet eine Tür…
Die Vorleserin stoppt. Dabei wollten wir alle gerade die Schwelle überschreiben – ertappen uns, dass wir davor waren, wie hypnotisiert Alice im Wunderland ins Erdloch zu folgen. Schade. Oder gerade noch rechtzeitig?
Judith Hermanns Feuertaufe
Genau gesagt, handelt das Buch „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ und enthält die drei Frankfurter Poetikvorlesungen von Judith Hermann. Dabei geht es um eine Tradition, die 1959/60 mit Ingeborg Bachmann begründet wurde. Autor*innen reden hier über sich und ihr Schaffen. Hermann hielt die Lesung, wie sie schildert, mit sehr großem Lampenfieber im Jahr 2022.
Beim Schreiben hätte ihr die Corona-Auszeit sehr geholfen und von Druck befreit – auch vor der Angst, zu viel Privates zu enthüllen. „Ich habe das Buch für mich selbst geschrieben“. Denn damals habe sie es sich nicht vorstellen können, jemals wieder mit vielen Menschen in einem Raum zu sein.
Die Mutprobe hat sie glänzend überstanden. Den Text für das Buch dann allerdings etwas verändert.
Wo versteckt sich die Autorin?
Die Zusammenarbeit läuft: Das Publikum fragt sehr interessiert, und das Antworten nimmt die Autorin ernst.
„Ich schreibe am eigenen Leben entlang“, erklärt Hermann. Als Erzählerin sei sie wie die kleinste Puppe in der Matroschka. Die Erzählung lenke wie ein Zaubertrick von ihr ab.
Sie baue Geschichten wie ein Kartenhaus, erklärt sie. Nachdem sie es aufgebaut hat, nehme sie wieder Karten heraus, so viel, bis die Geschichte instabil wird. Diese Abstraktion lässt viel Platz für die Leserschaft und gibt den Inhalten Tiefe.
Literarisches Werk und Fakten
Als Schriftstellerin kommt sie „nicht drumherum, persönlich zu werden“ und lernt sich beim Schreiben „immer wieder neu kennen“. Zu viel Persönliches will sie nicht preisgeben. Das sollte ihr keiner verübeln, sonst wäre sie wohl eine Bloggerin geworden.
Interessanter als die Frage, wie viele Details aus ihrem Leben sich in ihren Texten finden, ist allerdings, wie sie ihr Leben, ihre Erfahrungen und Literaturwissen reflektiert und geistvoll eine vielschichtige Literatur kreiert, die weit über einer „Indiziensammlung“ steht. Denn das macht sie auf bemerkenswerte Weise.
Großer Applaus
Das Publikum – darunter Annegret Held (Autorin und Botschafterin des Westerwaldes) – zeigt sich sehr angetan von Judith Hermann, spendet viel Applaus und kauft begeistert ihr neues Werk am Stand der Buchhandlung Logo, das gleich vor Ort signiert wird.
Und Judith Hermann begleitet alle vom Stöffel-Park nach Hause.
Zitate von Judith Hermann
„Eigentlich schreibe ich nur an einem Buch. Das Ensemble bleibt gleich, es entwickelt sich nur weiter.“
„Beim ersten Buch weiß man vom Leser nichts. Später weiß man, dass man frei war.“
Zwischen zwei Büchern
„Nach jedem Buch weiß ich nicht, wie ich weitermachen soll. Ich bin auf der Suche nach dem roten Faden, der mich ins Buch zieht.“
„Die Lesereisen sind eine Zeit zum Nachdenken, was ich schreiben will.“
„Jeden Tag eine Seite zu schreiben ist Teil eines Prozesses. Er führt eventuell zum Schlüsselsatz, zu einem neuen Text.“
„Man muss geduldig sein und auf der Lauer liegen. Es ist wie auf einem Hochstand: kalt und ungemütlich.“
Judith Hermanns Auszeichnungen
Für das aktuelle Werk erhielt Judith Hermann den Wilhelm Raabe-Literaturpreis. Hier finden Sie eine kleine Liste ihrer Auszeichnungen.